Das Doppelbödige der ersten Sprache, es zeigte sich erst beim Bestehen in der zweiten. Das Deutsche wurde immer mehr zu einem wärmenden Kleidungsstück. Was war das Doppelbödige der ersten Sprache? Warum erwischte es mich manchmal so unvorbereitet, als wohne in ihr jemand mit einer langen Liste all meiner Vergehen gegen die Menschen und rechne mich wortweise aus. Eine ganze Zeit lang machte mich jedes Wort in dieser Sprache zum Feigling, eine Sprache, die nun auch noch ganz anders hieß, das Serbische und das Kroatische wurden per Verordnung autonom (was für eine Autonomie!). Alles musste doppelt bewältigt werden, die eigene Wahrheit im Deutschen, die eigene Wahrheit in der Sprache der Mutter. Wer aber war meine Mutter der ersten Jahre? Eine Frau, die im Ausland (für etwas mit dem Namen Zukunft) ihre Schönheit und Kraft verlor, um mich und meine Zukunft möglich zu machen, um mich am Leben zu erhalten? Ich war also schuldig an ihren Krankheiten, an ihren nur aus Arbeit bestehenden schweren Stunden.
Das Durchschreiten beider Sprachen kam mir manchmal vor wie zweifaches Leben, wie zwei autonom nebeneinander wirkende Lebensspuren, die zu verbinden mir nur im Schreiben gelang. Im gelebten Alltag verweigerte sich diese Verschmelzung, als gehöre zu jeder Sprache ein ganz eigenes, eigenständig arbeitendes Herz, das alleinsprechend ist, und als müsse alles einzeln gelebt werden, bis die Einheit begönne. Wer oder was diesen Zeitpunkt bestimme, bleibe bis auf weiteres ein Geheimnis. Wer hätte es lüften können, damals, als das einzige, was ich besaß, eine langweilige jugoslawische Jugend war, einsam und mittellos in der deutschen Provinz. (…)
In der Stimme war lange Zeit ein Krächzen; und ein raues Knacken in den Stimmbändern, die, erzählte mir später mit seelenruhiger Stimme ein deutscher Hals-Nasen-Ohren-Arzt, bei mir nie richtig zueinanderfinden. Kurz bevor sie sich berühren, rennen sie wieder voreinander fort. So stellte ich es mir einmal bildlich vor, als meine Stimme, für mich selbst unvorbereitet, weggebrochen war, als sei sie nie dagewesen.
Die virtuelle jugoslawische Jugend hinterließ nicht nur Räume der Sehnsucht, sie strafte auch. An der Stimme vollzog sich die Strafe zuerst. In einem kalten deutschen Winter blieb sie ganz aus, für Wochen, nichts und niemand brachte sie zurück. (…)
Zum ersten Mal seit dem Erlernen der deutschen Sprache kam mir das Sprechen sinnlos und überflüssig vor. Während die Wörter in mir näher zueinanderrückten und mich zum Reden bringen wollten, ließ ich ab von den Sätzen und ihrem Zusammenhang. Jetzt hatte ich keine Angst wie in der Kindheit, die Stimme und die Wörter könnten für immer ausbleiben, und ich betete auch nicht für ihre Rückkehr.
Ich fühlte mich schweigend wohl. Nichts sagend. Pflichtlos. Auch jeglicher Empfindung enthoben. (…)
Von heute aus betrachtet, kommt es mir vor, als habe die deutsche Sprache die an tiefster Stelle abgelegten Nöte des einstigen Kindes verglast. Als habe sie sich über alle Schmerzen gelegt. Erhaben und sakral. Auf eine eigenartige Weise beschützte sie mich dadurch, die schmerzhaft erfahrene Sehnsucht der Kinderzeit wurde weiter von mir weggerückt und schließlich konserviert. (…)
Viele Jahre nach dem Ausfall der Stimme schrieb ich an meinem ersten Buch. Die deutsche Sprache führte mich zielgenau an alle Lücken des ersten Lebens heran. Menschengesichter, der Geruch des Fenchels, die Flut der Bilder und Farben, alles stand da in den deutschen Wörtern, als sei es dort schon immer gewesen, als habe die deutsche Sprache stets einen Abgesandten, einen Mitbewohner in mir getragen, geboren geradezu, und dann machte sie mich mittels dieses Helfers zu einem Menschen mit Erinnerung. Jedes Wort trägt ein eigenes Schwingungsfeld von Bewusstsein in sich. Um so rätselhafter für mich selbst, mich an das Ersterlebte in der deutschen Sprache zu erinnern. (…)
Es bleibt immer etwas vom Wesen dieses Kindes übrig, hinkt wie ein Lahmer in mir nach. Ein Kind ist das, auf der Suche nach dem Selbst, nach der Begegnung. Immer den deutschen Wörtern entlang. Immer mit ihnen. Immer ihnen nach wie zum Aufwind der Träume. In den Echoraum der Schweigsamkeit. In die Höfe des schwelenden Schweigens, der Musik so verwandt. Über dem Schweigen, wie auf einem Plafond, hängen die Barken. Sie sind weiß. Sie sind leuchtend. Sie sind Kerzen. Sie sind Wörter, mittellos, still. Eine Welt, Rand an Rand mit meiner Erinnerung. (…)
Dieser Text entstammt dem Buch „Sterne erben, Sterne färben“. Meine Ankunft in Wörtern, Marica Bodrožić, edition suhrkamp 2506, Frankfurt/Main 2007, € 8,30